Literaturnobelpreis
Nobelvorlesung vom 7. Dezember 2005*
Von Harold Pinter
Was der britische Literaturnobelpreistrger 2005, Harold Pinter, in seiner Nobelvorlesung vom 7. Dezember 2005 seiner Zuhrerschaft vortrug, konnte der Tagespresse nicht verborgen bleiben, doch sie hielt es nicht fr ntig, ihre Leserschaft zu informieren. Pinters Kritik an den USA und Grossbritannien wird nun eine allgemeine Korrektur des Bildes, das die Fhrungsmacht des Westens die Hauptsiegermacht des zweiten Weltkriegs ber das Deutsche Reich von sich im Bewusstsein der Vlker aufgerichtet hat, nach sich ziehen.
1958 schrieb ich folgendes:
Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.
Die echte Wahrheit aber besteht darin, dass sich in der Dramatik niemals so etwas wie die eine Wahrheit finden lsst. Es existieren viele Wahrheiten. Die Wahrheiten widersprechen, reflektieren, ignorieren und verspotten sich, weichen voreinander zurck, sind freinander blind. Manchmal sprt man, dass man die Wahrheit eines Moments in der Hand hlt, dann gleitet sie einem durch die Finger und ist verschwunden.
Aber wie gesagt, die Suche nach der Wahrheit kann nie aufhren. Man kann sie nicht vertagen, sie lsst sich nicht aufschieben. Man muss sich ihr stellen und zwar hier und jetzt.
Politische Sprache, so wie Politiker sie gebrauchen, wagt sich auf keines dieser Gebiete, weil die Mehrheit der Politiker, nach den uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat sondern nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens. Es umgibt uns deshalb ein weitverzweigtes Lgengespinst, von dem wir uns nhren.
Gibt es jemand, der Pinter aus berzeugung widersprechen wollte? Aber was hat er damit gesagt ohne es direkt erwhnt zu haben? Wenn diese Macht, die er nicht beim Namen nennt, sich nur erhalten kann, wenn die Menschen unwissend bleiben, dann muss die Lge genau dort gepredigt werden, wo die Menschen die Entdeckung der Wahrheit erwarten in den Tempeln der Wissenschaft. Denn es ist in einer wissenschaftsglubigen, vermeintlich offenen Gesellschaft undenkbar, dass zwar an den Universitten die Wahrheit erforscht und gelehrt, diese sich aber auf geheimnisvolle Weise in den Vermittlungsinstanzen in lauter Lgen verwandeln wrde. Das knnte nicht funktionieren. Daraus ist zu schliessen, dass bereits die Universitten und die anderen Forschungseinrichtungen als Brutksten der Lge zu dienen haben.
Pinter fhrt fort:
Wie jeder der hier Anwesenden weiss, lautete die Rechtfertigung fr die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfge ber ein hoch gefhrliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden knnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzhlte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung fr die Greuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzhlte uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns, es sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit sieht vllig anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun, wie die Vereinigten Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie sie sie verkrpern wollen.
Doch bevor ich auf die Gegenwart zurckkomme, mchte ich einen Blick auf die jngste Vergangenheit werfen; damit meine ich die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Ich glaube, wir sind dazu verpflichtet, diesen Zeitraum zumindest einer gewissen, wenn auch begrenzten Prfung zu unterziehen, mehr erlaubt hier die Zeit nicht.
Jeder weiss, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa whrend der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalitt, die weit verbreiteten Greueltaten, die rcksichtslose Unterdrckung eigenstndigen Denkens. All dies ist ausfhrlich dokumentiert und belegt worden.
Aber ich behaupte hier, dass die Verbrechen der USA im selben Zeitraum nur oberflchlich protokolliert, geschweige denn dokumentiert, geschweige denn eingestanden, geschweige denn berhaupt als Verbrechen wahrgenommen worden sind. Ich glaube, dass dies benannt werden muss, und dass die Wahrheit betrchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht. Trotz gewisser Beschrnkungen durch die Existenz der Sowjetunion, machte die weltweite Vorgehensweise der Vereinigten Staaten ihre berzeugung deutlich, fr ihr Handeln vllig freie Hand zu besitzen.
Die direkte Invasion eines souvernen Staates war eigentlich nie die bevorzugte Methode der Vereinigten Staaten. Vorwiegend haben sie den von ihnen sogenannten Low Intensity Conflict favorisiert. Low Intensity Conflict bedeutet, dass Tausende von Menschen sterben, aber langsamer als wrde man sie auf einen Schlag mit einer Bombe auslschen. Es bedeutet, dass man das Herz des Landes infiziert, dass man eine bsartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut wie der Faulbrand erblht. Ist die Bevlkerung unterjocht worden oder totgeprgelt, es luft auf dasselbe hinaus. Und sitzen die eigenen Freunde, das Militr und die grossen Kapitalgesellschaften bequem am Schalthebel, tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet. Das war in den Jahren, auf die ich mich hier beziehe, gang und gbe in der Aussenpolitik der USA.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges untersttzten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militrdiktatur auf der Welt, und in vielen Fllen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Trkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natrlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufgte, knnen nie geshnt und nie verziehen werden.
In diesen Lndern hat es Hunderttausende von Toten gegeben.
Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich khl operierende Machtmanipulation betrieben und sich dabei als Streiter fr das universelle Gute gebrdet. Ein glnzender, sogar geistreicher, usserst erfolgreicher Hypnoseakt.
Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die grsste Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgltig, verchtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever.
Mit Hilfe der Sprache hlt man das Denken in Schach. Mit den Worten das amerikanische Volk wird ein wirklich luxurises Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist berflssig. Man muss sich nur ins Kissen fallen lassen. Mglicherweise erstickt das Kissen die eigene Intelligenz und das eigene Urteilsvermgen, aber es ist sehr bequem. Das gilt natrlich weder fr die 40 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, noch fr die 2 Millionen Mnner und Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefngnissen eingesperrt sind, der sich ber die Vereinigten Staaten erstreckt.
Den Vereinigten Staaten liegt nichts mehr am Low Intensity Conflict. Sie sehen keine weitere Notwendigkeit, sich Zurckhaltung aufzuerlegen oder gar auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Sie legen ihre Karten ganz ungeniert auf den Tisch. Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen, das Vlkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und irrelevant betrachten.
Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines? Was bedeuten diese Worte? Stehen sie fr einen heutzutage usserst selten gebrauchten Begriff Gewissen? Ein Gewissen nicht nur hinsichtlich unseres eigenen Tuns sondern auch hinsichtlich unserer gemeinsamen Verantwortung fr das Tun anderer? Ist all das tot? Nehmen wir Guantanamo Bay. Hunderte von Menschen, seit ber drei Jahren ohne Anklage in Haft, ohne gesetzliche Vertretung oder ordentlichen Prozess, im Prinzip fr immer inhaftiert. Diese absolut rechtswidrige Situation existiert trotz der Genfer Konvention weiter. Die sogenannte internationale Gemeinschaft toleriert sie nicht nur, sondern verschwendet auch so gut wie keinen Gedanken daran. Diese kriminelle Ungeheuerlichkeit begeht ein Land, das sich selbst zum Anfhrer der freien Welt erklrt. Denken wir an die Menschen in Guantanamo Bay? Was berichten die Medien ber sie? Sie tauchen gelegentlich auf eine kleine Notiz auf Seite sechs. Sie wurden in ein Niemandsland geschickt, aus dem sie womglich nie mehr zurckkehren. Gegenwrtig sind viele im Hungerstreik, werden zwangsernhrt, darunter auch britische Brger. Zwangsernhrung ist kein schner Vorgang. Weder Beruhigungsmittel noch Betubung. Man bekommt durch die Nase einen Schlauch in den Hals gesteckt. Man spuckt Blut. Das ist Folter. Was hat der britische Aussenminister dazu gesagt? Nichts. Was hat der britische Premierminister dazu gesagt? Nichts. Warum nicht? Weil die Vereinigten Staaten gesagt haben: Kritik an unserem Vorgehen in Guantanamo Bay stellt einen feindseligen Akt dar. Ihr seid entweder fr uns oder gegen uns. Also hlt Blair den Mund.
Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte. Die Invasion war ein willkrlicher Militreinsatz, ausgelst durch einen ganzen Berg von Lgen und die ble Manipulation der Medien und somit der ffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung der militrischen und konomischen Kontrolle Amerikas im mittleren Osten unter der Maske der Befreiung, letztes Mittel, nachdem alle anderen Rechtfertigungen sich nicht hatten rechtfertigen lassen. Eine beeindruckende Demonstration einer Militrmacht, die fr den Tod und die Verstmmelung abertausender Unschuldiger verantwortlich ist.
Wir haben dem irakischen Volk Folter, Splitterbomben, abgereichertes Uran, zahllose willkrliche Mordtaten, Elend, Erniedrigung und Tod gebracht und nennen es dem mittleren Osten Freiheit und Demokratie bringen.
Wieviel Menschen muss man tten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmrder und Kriegsverbrecher zu sein? Einhunderttausend? Mehr als genug, wrde ich meinen. Deshalb ist es nur gerecht, dass Bush und Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen. Aber Bush war clever. Er hat den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst anerkannt. Fr den Fall, dass sich ein amerikanischer Soldat oder auch ein Politiker auf der Anklagebank wiederfindet, hat Bush damit gedroht, die Marines in den Einsatz zu schicken. Aber Tony Blair hat den Gerichtshof anerkannt und steht fr ein Gerichtsverfahren zur Verfgung. Wir knnen dem Gerichtshof seine Adresse geben, falls er Interesse daran hat. Sie lautet Number 10, Downing Street, London.
Der Tod spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Fr Bush und Blair ist der Tod eine Lappalie. Mindestens 100000 Iraker kamen durch amerikanische Bomben und Raketen um, bevor der irakische Aufstand begann. Diese Menschen sind bedeutungslos. Ihr Tod existiert nicht. Sie sind eine Leerstelle. Sie werden nicht einmal als tot gemeldet. Leichen zhlen wir nicht, sagte der amerikanische General Tommy Franks.
Ich sagte vorhin, die Vereinigten Staaten wrden ihre Karten jetzt vllig ungeniert auf den Tisch legen. Dem ist genau so. Ihre offiziell verlautbarte Politik definiert sich jetzt als Full spectrum dominance. Der Begriff stammt nicht von mir sondern von ihnen. Full spectrum dominance bedeutet die Kontrolle ber Land, Meer, Luft und Weltraum, sowie aller zugehrigen Ressourcen.
Die Vereinigten Staaten besitzen, ber die ganze Welt verteilt, 702 militrische Anlagen in 132 Lndern, mit der rhmlichen Ausnahme Schwedens natrlich. Wir wissen nicht ganz genau, wie sie da hingekommen sind, aber sie sind jedenfalls da.
Die Vereinigten Staaten verfgen ber 8000 aktive und operative Atomsprengkpfe. Zweitausend davon sind sofort gefechtsbereit und knnen binnen 15 Minuten abgefeuert werden. Es werden jetzt neue Nuklearwaffensysteme entwickelt, bekannt als Bunker-Busters. Die stets kooperativen Briten planen, ihre eigene Atomrakete Trident zu ersetzen. Wen, frage ich mich, haben sie im Visier? Osama Bin Laden? Sie? Mich? Joe Dokes? China? Paris? Wer weiss das schon? Eines wissen wir allerdings, nmlich dass dieser infantile Irrsinn der Besitz und angedrohte Einsatz von Nuklearwaffen den Kern der gegenwrtigen politischen Philosophie Amerikas bildet. Wir mssen uns in Erinnerung rufen, dass sich die Vereinigten Staaten dauerhaft im Kriegszustand befinden und mit nichts zu erkennen geben, dass sie diese Haltung aufgeben.
Abertausende wenn nicht gar Millionen Menschen in den USA sind nachweislich angewidert, beschmt und erzrnt ber das Vorgehen ihrer Regierung, aber so wie die Dinge stehen, stellen sie keine einheitliche politische Macht dar noch nicht. Doch die Besorgnis, Unsicherheit und Angst, die wir tglich in den Vereinigten Staaten wachsen sehen knnen, werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schwinden.
* bersetzt von Michael Walter