Wagnis Schweiz

Nachfolgend einige zeitkritische Kernstze aus dem im Novalis-Verlag, Schaffhausen, erschienenen Buch Wagnis Schweiz von Wolfgang von Wartburg*:

Wohl selten hat sich die Geistesverfassung des Schweizer Volkes so rasch gewandelt wie im vergangenen halben Jahrhundert. Vor fnfzig Jahren waren Begriffe wie Vaterland, Demokratie, Freiheit, nationale Unabhngigkeit trotz der selbstverstndlichen Kritik an den Mngeln des politischen Alltags lebendig und allgemeingltig. Seit den sechziger Jahren begann eine Kritik, die ans Mark der Eidgenossenschaft greift und deren Wesen und Daseinsberechtigung selbst in Frage stellt. []

Was hat sich gendert? Die Schweiz selbst oder der Geist des Betrachters? Offenbar beides. Die Forschung der letzten Zeit hat viele Erscheinungen der Schweizer Vergangenheit, die bisher als natrlich hingenommen worden waren, in ihrer Fragwrdigkeit offengelegt. Und die Schweiz der Nachkriegszeit weist Schwchen auf, die wachsende Kritik herausfordern. Die nderung der Betrachtungsweise hat aber auch einen inneren Grund, der im Zusammenhang mit der ganzen geistigen Entwicklung zu sehen ist. In den letzten Jahrzehnten ist der abendlndischen Menschheit eine Fhigkeit weitgehend abhanden gekommen, ber die sie frher noch instinktiv verfgte, die Fhigkeit, zwischen Idee und Wirklichkeit zu unterscheiden, oder, besser gesagt: auch das Ideelle als Wirklichkeit zu erleben. Dieser Entwicklung liegt die Ausbildung des modernen Materialismus zugrunde, der die Wirklichkeit auf ein abstraktes System von materiellen Fakten reduziert. Mit diesem Weltbild verliert der Mensch die Fhigkeit, eine Form als sinnvolle Gestalt zu erleben. Die Menschen werden unerreichbar fr Fragen der Form, der Schnheit, schliesslich des Anstandes und der Moral. Man hat diesen Zustand den realen Nihilismus genannt. []

Es knnen Situationen eintreten, besonders in Zeiten der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, wo der Widerstand gegen den eigenen Staat zur moralischen Forderung wird. Auch in der Schweiz kommt es vor, dass das an sich Richtige nur durch Einsatz massiven Drucks zustande kommt.

Die Konkordanzdemokratie, die sich erst im 20. Jh. eingebrgert hat, hat die Wirkung, dass die wirklichen Konflikte nicht mehr ausgefochten, sondern von mehr oder weniger faulen Kompromissen bermalt werden. Die allgemeine Verfilzung ist ein rgernis, das alle Verhltnisse vergiftet, aus dem aber kaum ein Ausweg in Sicht ist. []

Erstaunlich ist im Verlauf der Bundesrevision die Verbindung von Idealismus, Gewaltsamkeit und realistischer Vernunft. Die Gewaltsamkeit bertraf alles, was wir in dieser Hinsicht im 20. Jh. erlebt haben, den Generalstreik [1918], die Jugendrevolten. Man muss den Mut der Mnner bewundern, die es wagten, mitten in einem von Metternich beherrschten Europa durch einen Brgerkrieg die Bundesrevision zu erzwingen. Der Sonderbund wurde durch einen Krieg aufgelst, der gleichzeitig das Fanal zur Auflsung der europischen Revolution wurde. Die Umwlzung in der Schweiz blieb die einzige, die so gelungen ist, wie sie ursprnglich gemeint war. []

Es ist ein Skandal, dass heute noch von Arbeitsmarkt gesprochen wird. Arbeit kann nicht gekauft werden, ber sie kann nur auf dem Weg eines rechtlichen Vertrages verfgt werden. Dasselbe gilt grundstzlich auch von Grund und Boden. Und hier liegt wohl eine der grssten Versndigungen der Gegenwart, dass der Boden wie Kleider oder Tomaten gehandelt werden kann. Es mssten Eigentumsformen gesucht werden, [] welche Spekulationsgewinne ausschliessen. Die Vergabe im Baurecht ist ein Ansatz dazu.1 []

Die meisten Probleme, die uns heute so bedrngen, rhren daher, dass die drei Bereiche [Kultur, Staat und Wirtschaft] hoffnungslos ineinander verfilzt sind und sich dadurch gegenseitig in ihrer Handlungsfhigkeit lahmlegen. Der Staat soll der Treuhnder des objektiven Rechtes sein. Die Gesetzgeber sind jedoch zu einem grossen Teil nicht Treuhnder des Rechts, sondern Vertreter wirtschaftlicher Interessen. In welchen Bereich gehren z.B. Umweltfragen? Was Einsicht und Bereitschaft zum Handeln betrifft, sind sie Aufgabe der Wissenschaft, d.h. des geistigen Lebens. Durchfhrung des als notwendig Erkannten ist Sache des Staates. Die Wirtschaft hat hier berhaupt nichts zu suchen. In der Wirklichkeit ist es weitgehend umgekehrt. Oder das Problem der Erziehung. Die Erziehung zur Freiheit, auf welche sowohl die Gemeinschaft wie der einzelne Mensch selbst einen unbedingten Anspruch haben, setzt selbstverstndlich die Freiheit des Erziehers voraus. Was wir in Wirklichkeit sehen, ist, dass nach politischen Gesichtspunkten, d.h. grundstzlich unkompetent zusammengesetzte Behrden sich bemhen, die Schule immer mehr einer brokratischen Planung zu unterwerfen. []

Es gibt Probleme, die auf demokratischem Wege nicht zu bewltigen sind, die der freien Entscheidung des einzelnen Menschen zustehen. In Fragen des Sachverstandes, der schpferischen Kultur, der Lebensqualitt hat der Staat, hat auch jede demokratische Mehrheit ihr Recht verloren. Erziehung z.B. kann nur von Mensch zu Mensch vollzogen werden, nicht durch Mehrheitsbeschluss. Erziehung gehrt in den Bereich der Kultur, nicht des Staatslebens; sie kann nur in einer Atmosphre der Freiheit gedeihen, wo persnliche Erfahrung ihre Entstehung und ihre unmittelbare Anwendung finden kann. Der Industrie, den Handel- und Gewerbetreibenden wird Freiheit zugestanden aus der berzeugung, dass produktive Ttigkeit nur in Freiheit sich sinnvoll auswirken kann. Es wre zu wnschen, dass der Schweizer seinen Freiheitshorizont allmhlich auf das gesamte Gebiet schpferischen Lebens ausweiten wollte. []

Wenn an eine zeitgemsse Erneuerung gedacht werden soll, so kann es sich nicht um eine spektakulre Aktion handeln wie etwa 1798 oder 1847/48, sondern nur um eine beharrliche Arbeit an einer ttigen Selbstbestimmung. Die Schweiz ist heute mehr gefhrdet als 1939 bis 1945, aber nicht von aussen, sondern durch sich selbst. Niemand [anders] bedroht uns, als die eigene Begehrlichkeit und Trgheit. Der Feind sitzt heute im Bewusstsein, er greift das Bewusstsein an, bewirkt eine stille Erosion der geistigen Souvernitt, ohne welche die politische Souvernitt nicht mglich ist. Die Eidgenossenschaft existiert nur da, wo eine menschengemsse Gemeinschaft aus dem Bewusstsein der geistigen Substanz des Menschen gesucht wird. Im brigen ist sie ein Staat wie jeder andere, oft so brutal und kleinlich wie irgendein anderer. Seit dem Erwachen des europischen Menschen zum Selbstbewusstsein, seit dem 18. Jh., muss die Eidgenossenschaft sich konstituieren aus dem Bewusstsein ihres eigenen Wesens. Das ist geschehen im 19. Jh. Die Bewusstseinsindustrie des 20. Jh. dagegen tut, was sie kann, um den Menschen jedes grndliche und selbstndige Denken auszutreiben. []


Fussnoten

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Wolfgang von Wartburg (1914 1997), Dr. phil., bis 1980 Professor fr Deutsch und Geschichte an der Kantonsschule Aarau, a. o. Professor fr Neuere Geschichte und Schweizer Geschichte an der Universitt Basel.

 

1

Von Wartburg fgt in seinem Text Fussnote 19 ein mit Verweis auf Prof. Dr. Peter Ulrich, Direktor des Instituts fr Wirtschaftsethik (IWE) an der Hochschule St. Gallen, in der Schweiz. Handelszeitung vom 15. Februar 1990: Privateigentum beruht zwar auf der guten Idee, dass es persnliche Unabhngigkeiten schafft, das heisst, es ist Garant oder Voraussetzung einer gewissen brgerlichen Autonomie. Es kann, um ein besonders aktuelles Beispiel aufzugreifen, nicht sinnvoll sein, den Besitz von Boden, also eines knappen, nicht vermehrbaren Gutes in geradezu grotesker Konzentration als unantastbares Recht zu verteidigen. Bei uns haben demnchst 95% aller Brger nicht mehr die geringste Chance, durch eigene Leistung Grundeigentum zu erwerben. Wenn die gegenwrtige Entwicklung so weiter geht [was durch die Einwanderung whrend der letzten 20 Jahre tatschlich zutrifft, die Red.] dann verliert das Privateigentum seine gesellschaftliche Legitimation, weil man dann nmlich in neofeudalen Zustnden landet. Wir mssen endlich mit 100 Jahren Versptung, systematisch unterscheiden zwischen persnlichem Eigentum von natrlichen Personen, Menschen, und dem anonymen Eigentum von juristischen Personen, Krperschaften. Wir knnen bei juristischen Personen nicht lnger die gleichen liberalen Argumente dazu missbrauchen, wie sie fr den persnlichen Bereich gut und gltig sind, um die Unantastbarkeit der grssten Machttrger in unserer Gesellschaft zu verteidigen. (Aus dem Interview ber Liberales Denken erneuern!) [Die Bevlkerungszahl der Schweiz durch Einwanderung von sechs auf acht Millionen zu erhhen, sowie die Baubewilligung in Andermatt fr Saviris, sind Verbrechen am eigenen Volk. Revolutionre gyptische Zustnde sind fr die Zukunft unseres Landes nicht auszuschliessen. Die Redaktion.]